Am Vorabend war ich überhaupt nicht nervös. Doch als ich am Morgen nach dem Aufstehen in den Spiegel schaue und in Gedanken zu mir sage: „Eigentlich will ich heute gewinnen…“, überkommt mich ein Kribbeln, das ich schon lange nicht mehr hatte, denn – seit meinem letzten Berglauf auf den Belpberg im August 2021 konnte ich verletzungsbedingt keinen einzigen Wettkampf mehr bestreiten.
Mein Vater holt mich morgens mit dem Auto ab. Die Anfahrt zum Startort in Les Mélèzes, im Kanton Waadt, ist etwas länger. Auf der Hinfahrt fängt es ziemlich heftig an zu regnen. Ich denke nochmals an die sportlich gesehen schwierige Zeit zwischen meinem letzten Berglauf und dem heutigen Comeback zurück.
Wegen meiner Fussfehlstellung und damit verbundenem Verletzungsrisiko habe ich mein Lauftraining immer auf ein absolutes Minimum beschränkt und dafür mehr auf dem Rennrad trainiert (auch wenn ich wegen des minimalen Lauftrainings immer gewisse Nachteile hatte). Da es mir im Sommer 2021 läuferisch so gut gegangen war, machte ich, weil ich zu euphorisch wurde, einen gravierenden Fehler: Ich habe in 3 Tagen 2 Wettkämpfe bestritten, was ich sonst nie tue.
Das hatte eine schmerzhafte und langwierige Sehnenentzündung an der Fussunterseite zur Folge. Nach einer kompletten Bewegungspause konnte ich nach einer Weile dank Alternativtraining wieder mit Velofahren anfangen. Aber richtige Trainings auf dem Rennvelo konnte ich erst ab Mitte Juli 2022 wieder absolvieren. Auch wenn die Entzündung immer noch nicht komplett verschwunden ist, versuchte ich 1x die Woche zu Fuss einen Berg hochzukommen – zuerst mit schnellem Hiking, dann in Kombination mit Jogging. Bis jetzt hat das gut funktioniert, die Entzündung ist dadurch nicht schlimmer geworden.
Weil es mir im Training so gut gelaufen ist, fasste ich den Entschluss, noch dieses Jahr einen Berglauf zu machen und zwar diesen heute: 4 km Streckenlänge und 900 Meter Höhenunterschied!
Ich starte im Regen. Es ist Einzelstart – alle 30 Sekunden startet ein Läufer. Das ist hier praktisch, weil es am Anfang einen eher schmalen Waldpfad hochgeht, welcher bei einem Massenstart zu Staus führen würde.
Zuerst führt der Weg über Stock und Stein durch den Wald. Es ist glitschig und technisch zum Laufen, was mir jedoch liegt. Die Laufstrecke ist von Anfang an steil und wird durch kurze „flachere“ (soweit man hier von flach sprechen kann) Abschnitte aufgelockert, jedoch wird sie weiter oben immer steiler. Irgendwann hört es auf zu regnen. Mir läuft es gut, ich überhole immer wieder Läufer, die vor mir gestartet sind.
Im Allgemeinen laufe ich eher etwas vorsichtig, aber so, dass ich im letzten Abschnitt doch noch mal richtig aufdrehen kann. Überglücklich, dass es mir so gut gelaufen ist, passiere ich die Ziellinie, auch wenn ich noch nicht weiss, wie die Rangliste ausfällt!
2020 lief ich hier in sehr schnellen 40:04 und wurde hinter der französischen Weltklasseläuferin Christelle Dewalle 2. Heute, das war vorher klar, würde ich eine solche Leistung nicht hinkriegen, weil mir nach so langer Laufpause und so kurzer Vorbereitungszeit (und so wenigen Lauftrainings) die Form einfach fehlt. Ich bin satte 3 Minuten langsamer als damals, trotzdem reicht es mir heute zum Sieg und vor allem zu einem absolut gelungenen Comeback!